Ursula Koos
Einzug ins Heim
Ursula Koos kam 1960 mit 11 Jahren in das Kinderheim in der Königsheide. Ihre Mutter war schwer krank und nicht in der Lage, Ursula groß zu ziehen. Die Leitung des Kinderheims oblag zu jener Zeit Herrn Riese, welchen Ursula als sehr liebenswert, interessiert und fürsorglich wahrnahm. Sie kam in eine gemischte Gruppe für Geschwister, obwohl sie kein Geschwisterkind im Heim hatte, doch in der Gruppe war zu dem Zeitpunkt ein Platz frei. Da kurz darauf die Schule losging wurden die Kinder in neue Gruppen eingeteilt, welche später auch zu den einzelnen Schulklassen wurden. Ursula kam in Haus 4 unter. Sie erinnert sich, dass sie lediglich Kontakt zu Kindern und Erziehern aus Haus 4 hatte, da alle Kinder aus einem Haus auch in die gleiche Klassenstufe gingen. Für Ursula war es eine gute Erfahrung, in das Heim zu kommen. Früher, noch bei ihrer Mutter, hatte sie oft Hunger verspürt und wurde nicht adäquat betreut. Sie sagt selbst, dass es für sie zu einem neuen zu Hause wurde. In der Königsheide hat sie zum ersten Mal ein Geschenk zum Geburtstag oder aber zu Weihnachten bekommen.
Das Leben im Heim
Ursula war Mitglied bei den Jungen Pionieren und nahm an verschiedensten Veranstaltungen teil. Sie erzählt nicht viel davon, außer, dass es einfach dazu gehörte, denn jeder war Jungpionier, dort konnte man viele AGs (Arbeitsgruppen) besuchen und so seine Freizeit gestalten. Sie besuchte regelmäßig Filmabende im Heim, welche Freitag- und Samstagabend stattfanden.
Sie erinnert sich auch an den Umbruch, welchen es gab, als die Leitung des Kinderheims wechselte. Den neuen Direktor des Heims, Herrn Graupner, beschreibt sie als jemanden, der kein Interesse an den Kindern hatte. Man hätte ihn nie zu sehen bekommen und er hätte kein gutes Verhältnis zu den Kindern gehabt. Mit der Bildungsreform wurde die Schule, die vorher bis acht Schuljahre umfasste, um zwei Jahre verlängert. Ursula machte ihren Abschluss in der 10. Klasse auf der Heimschule, die sich auf dem Heimgelände befand. Ursulas Mutter kam sie auch ab und an besuchen und obwohl andere Kinder gar keine Elternteile mehr hatten, hatte Ursula nie das Gefühl, dass andere Kinder auf irgendeine Weise bevorzugt wurden.
Auswärtige Abenteuer
Während ihrer Schulzeit hatte sie kaum Freizeit. Ihr ganzer Tagesablauf war straff getaktet. Es blieb nicht viel Zeit, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und eine eigene individuelle Persönlichkeit zu formen und entwickeln zu lassen und sich damit selbst kennenzulernen. Aber da die Erzieher lediglich in Schichten von acht Stunden arbeiteten, war es ihr möglich, dass ein oder andere Mal einen nächtlichen Ausflug zu unternehmen. Abends, wenn die Erzieher Feierabend hatten und lediglich zwei Wachleute für Ruhe auf dem Gelände sorgten, war es ihr und einigen anderen Mädchen möglich, sich durch das Fenster hinauszuschleichen. Manchmal gingen sie dann auf Partys oder aber zu Bekannten und hörten Westradio oder schauten West-Fernsehen. Wenn sie dann sehr spät nachts nach Hause kamen, hatten die Jungen, die im Erdgeschoss wohnten, das Fenster für sie offengelassen, sodass sie unbemerkt wieder in ihre Zimmer kamen. Oft holte sie sich aber auch einen Ausgangsschein, um ihre Mutter, ihren Bruder oder Freunde ihrer Eltern zu besuchen. Dafür musste lediglich blitz blank geputzt werden, dies wurde auch überprüft.
Die Entwicklung ihrer Persönlichkeit
Mit fortschreitendem Alter übernahm sie auch einige Aufgaben auf eigene Initiative hin, etwa die Unterstützung bei der Betreuung der kleineren Kinder. Ein Beispiel, welches uns noch lange nach unserem Gespräch mit Ursula im Kopf blieb, sind ihre Erzählungen von der Betreuung der Kleinkinder im Planschbecken. Früher befand sich hinter der Schule jenes besagte Planschbecken. Die meisten Kleinkinder rannten dort nackig herum und ahnten nichts Böses, doch häufig verirrten sich Männer, zuweilen auch mit Fotoapparaten an den Zaun, direkt in der Nähe vom Planschbecken. Ursula sah es als ihre Aufgabe, die Kinder von diesen Männern abzuschirmen und sie zu beschützen.
Nach Beendigung der 10. Klasse war Ursula klar, dass sie gern eine Ausbildung machen wollte. Sie entschied sich für die Ausbildung zum Mechaniker, wobei zu beachten ist, dass ihr lediglich drei unterschiedliche Ausbildungswege zur Verfügung standen. Während ihrer Ausbildung lernte sie ihren ersten Ehemann kennen, er war ein Bekannter einer ihrer Ausbildungsgenossinnen.
Der Auszug aus dem Heim
Mit Beendigung der Ausbildung neigte sich auch das Heimleben dem Ende zu, Ursula wurde 18 Jahre alt. Ihr wurde eine Wohnung gestellt und Ursula war bereit, auszuziehen. Kurz darauf stellte sich aber heraus, dass die Wohnung gar nicht existierte. Dementsprechend glücklich nahm Ursula das Angebot ihrer zukünftigen Schwiegermutter an, bei ihr zu wohnen. Kurz darauf bekam sie ihr erstes Kind. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon keinen Kontakt mehr ins Heim. Heute führt sie das darauf zurück, dass alle, die auszogen zu sehr damit beschäftigt waren, sich ein Leben aufzubauen. Im Heim wurden sie nicht auf das Leben danach vorbereitet. Die meisten wurden ins kalte Wasser geschmissen und wussten nicht einmal, wie ein Laib Brot aussieht, sie kannten es lediglich bereits in Scheiben geschnitten.
Das Leben nach dem Heim
Mit 21 Jahren fand Ursula ihre erste eigene Wohnung in der Bernauer Straße, direkt an der Mauer. Niemand hatte ihr zuvor erklärt, dass sie eine Kohlenkarte bräuchte, um Kohle zum Heizen zu beschaffen. Auch von Lebensmittelmarken hatte sie bis dahin nichts gehört. Als allein erziehende, arbeitende Mutter schlug sie sich durch. Ursula absolvierte noch eine weitere Ausbildung, machte ihren Meister und studierte Maschinenbau sowie Sozialpädagogik. In die Partei trat sie erst im Alter von 40 Jahren ein. Dies war notwendig, um in ihrem damaligen Betrieb in eine führende Leitungsposition zu kommen. Die letzten 25 Jahre ihres Arbeitslebens verbrachte sie an einer Berufsschule als Sozialpädagogin.
Bildnachweis: Alle drei Bilder stammen aus dem Privatbesitz der Zeitzeugin und wurden freundlicherweise für das Projekt zur Verfügung gestellt.
Ursula Koos war zum Zeitpunkt der Dreharbeiten leider kurzfristig verhindert.
Das Team hat daher kein Interview mit der Kamera mit ihr drehen können, dafür aber ist dieser Text mit den Bildern entstanden.
Als Video ist durch das höchst flexible Projektteam der Überblicksfilm zum Seminar entstanden.