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Silvia Baumbach

Silvia Baumbach

Weg ins Heim

Sylvia Baumbach, geboren 1958, wuchs in einer Familie mit 11 Kindern auf. Aufgrund unzumutbarer häuslicher Verhältnisse verbrachte Sie die Jahre von 1967 bis 1974 im Kinderheim in der Königsheide.

Durch den frühzeitigen Tod von Sylvias Vater wurde die Mutter alleinerziehend, als Sylvias jüngste Schwester gerade einmal 7 Monate alt war. Sie war mit der angemessenen Erziehung und Versorgung der Kinder überfordert. Fortan war Sylvia stets daran beteiligt, auf ihre jüngsten Geschwister aufzupassen, aber die Situation besserte sich nicht. Im großen Familiengrundstück in Mahlsdorf war vor allem auch Sauberkeit und Ordnung ein stetiges Problem. Als die Vernachlässigung schlussendlich in der Schule auffiel, hat die Jugendhilfe schnell reagiert. Sylvia und ihre anderthalb Jahre jüngere Schwester wurden im September 1967 in das Heim aufgenommen. Sylvia war zu diesem Zeitpunkt neun Jahre alt.

Nun war Haus 3 ihr neues Zuhause. Im Gegensatz zu den anderen Häusern wurden hier Kinder untergebracht, die noch Eltern hatten, aber wegen Missständen oder anderen Gründen ins Heim kamen. So gab es beispielsweise auch Botschafterkinder, deren Eltern drei Jahre ins Ausland verlegt wurden und sie ihre Kinder dorthin nicht mitnehmen konnten. Die Einweisung der Kinder im Haus 3 war in jedem Fall nur temporär vorgesehen. Sobald sich die Zustände bessern sollten, war eine Rückkehr zur Mutter nach Hause geplant. So war Sylvias Heimeinweisung offiziell erst nur für ein halbes Jahr vorgesehen, aber schlussendlich wurden daraus sieben Jahre Heimaufenthalt. Im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester empfand sie die Zeit jedoch als durchweg positiv. Erstmalig fühlte Sie sich, als würde Sie in geregelten Verhältnissen aufwachsen.

Erziehung

Der sowjetische Pädagoge Anton Semjonowitsch Makarenko war das Leitbild für die sozialistischen Erziehungsprinzipien in der DDR, welche auch in der Königsheide praktiziert wurden. Besonders deutlich wird das an der Umbenennung des Heimes zum „Kinderheim A. S. Makarenko“ am 30.11.1968.

Allerdings bemerkte Sylvia zu ihrer Heimzeit nicht viel von diesen Erziehungsprinzipien. Im Haus 3 sei es anders abgelaufen als in den anderen Häusern, weswegen Sie die Erziehung liberaler als andere Heimkinder wahrnahm. So war ihr zwar das Erziehungsprinzip der „nützlichen Arbeit“ und „Selbstverwaltung“ durchaus bekannt, denn von ihr und den anderen Kindern wurde Mitarbeit an den anfälligen (Haus-)arbeiten gefordert. Die von Makarenko geprägten „Kollektivstrafen“ seien aber erzieherabhängig gewesen, Sylvia kam damit nicht in Berührung. Es wurde selten bestraft und wenn, dann eher der Einzelne. Generell verstand sich Sylvia mit ihren Erziehern sehr gut. Auch in der Schule fühlte Sie sich von den Lehrern gefördert. Im Gegensatz zu etlichen anderen Heimkindern ihrer Heimzeit sah sie die Erziehungspraktiken als absolut angemessen und selbstverständlich an.

Politische Ereignisse im Heim

Die Jahre 1967 bis 1974 zu Sylvias Heimzeit waren politisch sehr wechselreich. Neben den allgemeinen Konsequenzen des Mauerbaus und der Teilung Deutschlands gab es zahlreiche einschneidende Ereignisse wie das Inkrafttreten der neuen sozialistischen Verfassung (09.04.1968), das Attentat auf Rudi Dutschke (11.04.1968), die Wahl von Willy Brandt als Bundeskanzler der BRD (21.10.1969), sowie das Inkrafttreten des Viermächteabkommens über Berlin (03.06.1972).

Im Heim jedoch bekam Sylvia nicht viel davon mit, was „draußen“ geschah.
Zwar wurde in der Schule politische Bildung durchaus gefördert, beispielsweise mussten die Heimkinder regelmäßig Wandtafeln über aktuelle Themen der DDR anfertigen. Doch anstatt politischer Bildung interessierte sich Sylvia in diesem Alter besonders für eins: Struktur, Geborgenheit, Gemeinschaft und Zusammenhalt. Politik war für Sie etwas Nebensächliches, das man „so mitbekam“. Sie war allerdings nicht die Einzige. Beispielsweise mussten die Heimkinder als Pflichtprogramm die DDR-Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“ sehen, sobald die Erzieher jedoch aus dem Raum gingen, wechselten sie gerne den Sender. Thematiken der aktuellen Kamera, sowie der politischen Wandtafeln, sind nicht im Besonderen verinnerlicht worden: „das hat man sich angeguckt und dann war gut“. Auch die Kleiderordnung der Freien Deutschen Jugend (FDJ) war vielen ein Graus.

Alltag & Pflichten

Neben einem geregelten Tagesablauf bot das Heim in der Königsheide auch viel Raum zur Freizeitgestaltung, sowie ein breitgefächertes Angebot an AGs. Sylvia war während ihrer Heimzeit zunächst Mitglied der Jungen Pioniere und später auch der FDJ, beides staatlich organisierte Jugendorganisationen, welche militärische Rituale wie Fahnenappelle zelebrierten aber auch gemeinsame soziale Aktionen, wie Solidaritätsbasare u. ä. organisierten.
Zudem nahm Sylvia im Heim an einer Jugendweihe teil, eine festliche Initiationsfeier, die den Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenalter kennzeichnen sollte und im Alter von 14 Jahren zelebriert wurde. Die Jugendweihe avancierte zum staatssozialistischen Fest, welches eine Konkurrenz zur kirchlichen Konfirmation und im weiteren Sinne auch eine Abgrenzung zur Bundesrepublik mit den beiden kirchlichen Feiern für Jugendliche Kommunion und Konfirmation darstellen sollte.
Allerdings gab es neben allen Freiheiten auch Pflichten, welche oft in Form von Hausarbeiten auftraten, zu erfüllen. Sylvia hat jedoch keine Zwangsarbeiten ausführen müssen, sich weder fremdbestimmt gefühlt, noch schwere Bestrafungen erleben müssen. Positives überwog so sehr, dass Sylvia den Schulalltag außerhalb des Heimes, nach der 10. Klasse als „spießig“ wahrnahm.

Freiheit

In den Abendstunden konnte man am Lattenzaun des Heimes Zeuge nächtlicher „Ausbrüche“ und Ausflüge der Heimkinder werden. Kleinere Gruppen von Heimkindern taten sich zusammen und trafen sich nach geglücktem „Ausbruch“ in den dem Heimgelände umliegenden Kleingärten oder Kiesgruben zum Baden, sowie zum heimlichen Zigarettenkauf im nahgelegenen Konsum, dem Supermarkt der DDR. Zudem gab es die sogenannten „Zaungäste“, welche den Lattenzaun des Heimes zu einem beliebten Treffpunkt mit Jugendlichen außerhalb des Heimes machten.


Sylvia konnte aus ihrem Schlafraum im ersten Geschoss von Haus 3 besonders gut entwischen. Sie wurde jedoch auch das ein oder andere Mal dabei erwischt.

Nach dem heimlichen Zigarettenkauf im Konsum traf sich Sylvia zum gemeinsamen Rauchen mit anderen Heimkindern an ihrem Lieblingsort im Heim. Das Versteck fürs „Verbotene“ war das Kletterschiff auf dem Gelände, welches durch seine Uneinsichtigkeit punktete.

Bereits zu Sylvias Heimzeit war das Kletterschiff nur noch eine Ruine.

Freizeit

Am meisten genoss Sylvia während ihrer Heimzeit die Jugendfahrten und Ferienlager. Sie beschreibt diese als ihre schönsten Erinnerungen aus den sieben Jahren, die sie in der Königsheide verbrachte. Das Zusammengehörigkeitsgefühl war hier besonders ausgeprägt und wurde durch gemeinsame Ausflüge intensiver als in der Königsheide, wobei die Heimkinder sich zudem auch noch frei auf dem Gelände bewegen durften.

In Kastaven, einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern an der Grenze zu Brandenburg, stand den Kindern ein See mit eigener Badestelle zur Verfügung. Weiter Orte für Ferienlager waren die Burg Gleichenstein, eine Höhenburg in Thüringen, sowie Prieros.
Gemeinsam wurden Nachtwanderungen, Neptunfeste und vieles mehr organisiert.

Die einzig schlimme Erinnerung an Kastaven war für Sylvia das morgendliche Wecken durch die Lautsprecherdurchsage: „Was ist denn heut bei Findigs los?“ – eine Hörspielserie des Berliner Rundfunks, welche den Alltag einer DDR-Familie mit vier Kindern behandelte.

Sylvias Alltag im Heim war von einer Vielzahl von Freizeitaktivitäten geprägt. Sie beteiligte sich an mehreren AGs, wobei die Teilnahme am Spielmannszug und Chor ihre Lieblingsaktivität darstellte. Sie spielte Querflöte, da „das Trommeln den Jungen vorbehalten war“.

Diese Freizeitaktivitäten förderten zusätzlich den Gruppenzusammenhalt, führten zu einem „blinden Verständnis“ unter den Heimkindern und Sylvia fühlte sich gefördert und gestützt: „alles funktionierte und man konnte sich auf andere verlassen“. Auch Feierlichkeiten, wie Geburtstage und Weihnachtsfeste waren von dieser familiären Grundstimmung geprägt.

Ein Spielmannszug ist im engeren Sinn eine Musikgruppe im Genre der Marschmusik, bestehend aus Marschtrommeln, klappenlosen Querflöten, Lyren, großer Trommel und Becken. Begleitet hat der klassische Spielmannszug zum Beispiel die Turnfeste und die damit verbundenen Umzüge. Sylvias Spielmannszug begleitete unter anderem die Weltfestspiele im Jahr 1973.

Materielles

Wie viele andere Kinder konnte auch Sylvia über eigenes Taschengeld verfügen und nutzte dieses für Kinobesuche und andere Vergnügungen.

10 Gebote

Projektteam

Esther | Nora

Versorgung für Familienbesuche